Page 3 - ZBI-Nachrichten 5-6/2018
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Leitartikel
Den Wandel gestalten
Herausforderungen für Ingenieur_innen
Von Wilfried Grunau, Präsident des ZBI
D ass unsere Welt sehr fragil ist, Fähigkeiten des Menschen freisetzt, Ein gelungener Umgang mit Vielfalt
wissen wir alle. „Nichts ist
bedeutet im Minimalfall, Konflikte
geschrieben. Freiheit kann ungemüt-
weniger unschuldig, als den
Dingen ihren Lauf zu lassen“, sagte lich werden, kann Angst machen, gewaltfrei zu regeln. Im Idealfall heißt
es, dass sich Menschen mit unter-
kann Menschen überfordern und die
der französische Sozialphilosoph Sehnsucht nach der Rückkehr in eine schiedlichen kulturellen Identitäten in
Pierre Bourdieu einmal. Und Recht geschlossene Gesellschaft nähren, die gleichem Maße zur Gesellschaft zuge-
hatte er. In einer globalisierten Welt alle ihre Kraft dazu verwendet und hörig fühlen, die gleiche Chance auf
wie der unsrigen ist es wichtig, den verschwendet, sich nach außen abzu- Wohlstand haben, politisch Gehör fin-
Umgang mit Vielfalt zu üben und den riegeln. den und untereinander wertschätzen-
gesellschaftlichen Diskurs zu pflegen. de Beziehungen pflegen. Daraus leitet
Wir leben aktuell in einer Phase sich die Verantwortung ab, Vielfalt
umfassender technologischer, ökono- nicht bloß zu tolerieren und passiv zu
mischer, sozialer und kultureller Um - ertragen, sondern sie anzuerkennen
brüche. Beispiele hierfür sind der und aktiv zu gestalten. Grundlage
Klimaschutz, die Digitalisierung eben- dafür ist beispielweise ein Verständ -
so wie die „Trumpisierung“ der Welt nis, wie Märkte und Wirtschafts -
organisationen in historische, politi-
Diese Umbrüche stellen unser Selbst -
sche und kulturelle Zusammenhänge
bild als Menschen sowie unser Selbst -
eingebettet sind, wie sie entstehen
verständnis als Gesellschaft infrage.
und wie sich ihre gesellschaftlichen
Und die Grundverfasstheit unserer
Grenzen verändern.
Ge sellschaft macht die aktuelle Dis -
kussion außerordentlich schwierig. Schauen wir uns einmal an, was eine
Selten war so viel von Wertewandel, Grenze bewirkt: Sie lässt das eine
Werteverlust und Orientierungslosig - enden, gleichzeitig das andere begin-
keit die Rede wie heute. Glaubte man nen und umgekehrt. Und sie verleiht
Dipl.-Ing. Wilfried Grunau ist seit 2014
denen, die so reden, stünde es tat- beiden Bereichen Kontur und Gestalt.
Präsident des Zentralverbandes der Inge -
sächlich schlecht um unsere Gesell - Vor allem macht sie das eine vom
nieurvereine (ZBI) sowie seit 1993 Präsi -
schaft, taumelte diese ihrer Selbstauf - anderen unterscheidbar – oder: Sie
dent des Verbandes Deutscher Ver -
lösung entgegen, zumindest aber messungs ingenieure (VDV). behauptet diese Unterschiede. Das ist
einem Zustand, in dem die alten das Eigentliche, das Grenzen interes-
Orientierungen nicht mehr halten und sant macht.
Der Schock dieses Übergangs von der
neue nicht in Sicht sind, in dem die
geschlossenen in die offene Gesell - Wenn ich in diesem Kontext also von
alten Werte nicht mehr gelten und
schaft ist, so Poppers Vermutung, der Grenzen spreche, spreche ich von
neue kein gesellschaftliches Glück ver-
entscheidende Faktor, der immer wie- Unterscheidungen. Ohne Grenzen
sprechen.
der jene reaktionären Bewegungen wäre nichts wahrnehmbar. Sie sind
Was aber sind die Kennzeichen einer ermöglicht, die auf den Sturz der die Voraussetzung jeder menschlichen
moralischen und zugleich toleranten Zivilisation und auf die Rückkehr der Erkenntnis. Denn jede Erkenntnis be -
gesellschaftlichen Transformation? Stammesgebundenheit hingearbeitet ginnt mit einem entscheidenden Akt:
Welche Impulse lassen sich aus histo- haben und noch hinarbeiten. Wer zu verstehen, dieses ist nicht jenes.
rischen Erfahrungen daraus ziehen? meint, das Böse sei ein für alle Mal Aber, und das gehört zu jeder
Und wie kann den Ängsten, die die- überwunden, weil doch jeder Ver - Grenzerfahrung: Man kann auch fal-
sen Transformationsprozessen gegen- nünftige einsehen müsse, dass und sche Unterscheidungen treffen. Nicht
überstehen, begegnet werden? Der wie er von einer offenen Welt profitie- die Grenze ist das Problem, sondern
Philosoph Karl Popper hat dazu vom re, in der er nach seinen Wünschen ob diese Grenze an dieser Stelle sinn-
Trauma des Übergangs aus der Stam - leben, frei sein und reich werden voll und notwendig ist. Und über
mes- oder „geschlossenen Gesell - kann, und dass jedermann schon aus Grenzen wird bekanntlich seit Men -
schafts ordnung“, die magischen Kräf - purem Egoismus diese Freiheitsrechte schengedenken gestritten. Die eige-
ten unterworfen ist, zur „offenen Ge - allen anderen ebenfalls zubilligen nen, wie die fremden. Grenzen zu zie-
sellschaftsordnung“, die die kritischen müsste, sieht sich getäuscht. hen wird immer ein Balanceakt blei-
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