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Ingenieure in der Gesellschaft
Der Klimawandel ist keine Utopie, sondern Gegenwart
Von Wilfried Grunau, Präsident des ZBI
K limawandel. Hochaktuell und Utopien, also Ideen für eine mögliche brauchen jetzt diejenigen, die sagen:
„Jetzt ist die Zeit für eine neue Vision,
doch schon seit langem ein
Zukunft, werden oft in Krisen gebo-
drängendes Megathema. Kei -
wurde so manches Mal auch Realität,
ne Utopie, sondern ganz konkret und ren. Und aus schwer greifbaren Ideen eine neue Utopie.“
Utopisches Denken befeuert den
real. Das Thema der Utopie ist die denken wir nur an den amerikani-
Wandel unserer Gesellschaft – und
Zukunft, der Klimawandel ist aber schen Präsidenten John F. Kennedy
der technische Fortschritt gab den
jetzt schon Gegenwart. Gleichwohl und seine Vision von der ersten
Menschen lange Zeit auch ein Gefühl
hat Klimawandel auch mit Utopien zu bemannten Mondlandung. Diese
von Kontrolle und Sicherheit. Die Welt
tun. Der Mensch hat schon immer Vision, erstmals vorgestellt im ameri-
wirkte beherrschbar. Ganz so einfach
über die Grenzen der Gegenwart hin- kanischen Kongress im Mai 1962, war
ist es aber dann eben doch nicht.
ausgedacht. Wobei: Die Rede von natürlich Teil seiner politischen
Utopie transportiert meistens Bilder Strategie und beflügelte Menschen Probleme wie der Klimawandel provo-
aus dem Kontext technologischer auf der ganzen Welt. Wir alle kennen zieren also geradezu utopisches
Veränderungspraxis: Big Data, Künst -
liche Intelligenz, Transhumanismus
etc. pp.. Aber ganz generell verraten
Utopien ja oft mehr über die Zeit, in
der sie entworfen werden, als über
die Zeit, für die sie etwas entwerfen.
Da lohnt es sich beispielsweise, in
einer 46 Jahre alten Utopie über
Umweltkatastrophen und das Über -
leben der Menschheit zu blättern:
„Ökotopia“, 1975 von dem amerika-
nischen Schriftsteller Ernest Callen -
bach im Selbstverlag veröffentlicht.
Das Buch beschreibt nicht, wie es zu
einer Umweltkatastrophe kommt,
sondern wie eine Gesellschaft ausse-
hen könnte, die diese Umweltka -
tastrophe abwendet. In der breiteren Dipl.-Ing. Wilfried Grunau ist Geodät und seit 1993 Präsident des Verbandes Deut scher
Öffentlichkeit ist das Buch heute fast Vermessungsingenieure (VDV). Seit 2014 ist er zugleich Präsident des Zentral verbandes der
vergessen. Und tatsächlich erfährt Ingenieurvereine (ZBI). Für sein Engagement wurde er 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz
ausgezeichnet.
man in dem Buch auch wenig, was
für die Umwelt zu tun wäre. Ganz im
Gegenteil zu der 1972, also drei Jahre das Ergebnis. Oder auch die berühm- Denken. Und so etwas ist wichtig, um
vorher publizierten legendären Studie te Rede von Martin Luther King, die er Veränderungen anzustoßen, denn
„Grenzen des Wachs tums. Bericht im August 1963 vor mehr als 250.000 viele Menschen träumen von einer
des Club of Rome zur Lage der Menschen vor dem Lincoln Memorial Welt, in der das Leben für kommende
Menschheit“, eine eher kritische in Washington hielt: „I have a Generationen gesichert ist. Soziale
Auseinandersetzung mit den Auswir - dream“. 46 Jahre später zog der erste Bewegungen wie Fridays für Future
kungen und Folgen des wirtschaft- schwarze Präsident ins Weiße Haus stehen im positiven Sinne beispielhaft
lichen Wachstums auf die natürliche ein. für gelebte Utopien. Sie müssen
Umwelt des Menschen. Die damalige anschlussfähig sein, aber auch kon-
öffentliche Debatte über Wachstum Grundsätzlich gilt also: Bei Verände - trovers genug, um zu funktionieren.
und seine Folgen bewirkte deshalb rungsprojekten ist es wichtig, allen
auch, dass der Umweltge danke über- Beteiligten das Ziel und dessen Utopien werden aus Krisen heraus
haupt bei politischen und wirtschaft- Bedeutung deutlich zu machen. Und geboren – und das 21. Jahrhundert ist
lichen Entscheidungen eine Rolle zu das gilt auch für das Ziel, den voll davon. Konflikte, wie die Klima -
spielen begann. Klimawandel zu stoppen. Heißt: wir krise wirken unlösbar. Für viele steht
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